Israel im Krieg: Fünf Antworten vom Experten
Oberst des Generalstabsdienstes Guido Kraus - von 2012 bis 2015 Verteidigungsattaché in Israel, dabei die Gaza-Kriege 2012 und 2014 erlebt, ist derzeit an der Führungsakademie der deutschen Bundeswehr Dozent für VN- und EU-geführte Operationen und Militärstrategie. Oberst Kraus beantwortet Fragen zur aktuellen Lage.
1) Wie konnte die Hamas so überraschend vorgehen?
Die Hamas und andere Terrorgruppierungen im Gaza-Streifen konnten über die letzten Jahre und Monate ihr Angriffspotential, speziell das Raketenarsenal, schrittweise (wieder) aufbauen und militärisch trainieren.
Gleichzeitig waren die israelischen Streitkräfte mit Schwergewicht im Westjordanland zur Bekämpfung von Terrorzellen eingesetzt und die Sicherung um den Gaza-Streifen war eher dünn besetzt. Dazu kommt das Feiertagswochenende um den Yom-Kippur-Tag, sodass die israelischen Streitkräfte ihre Einsatzbereitschaft weiter reduziert hatten.
Da sich Terroristen unter die Zivilbevölkerung mischen, ist es sehr schwierig, eine Vorbereitung für einen Angriff frühzeitig zu erkennen. Auch ist der Gaza-Streifen geographisch sehr klein, sodass die Terroreinheiten schnell alarmiert und zusammengezogen werden konnten. Daher hatte die Hamas und andere Terrorgruppen, die den Angriff entsprechend vorgeplant hatten, eine wesentlich höhere Einsatzbereitschaft als die israelischen Streitkräfte und konnten daher so schlagartig und massiv zuschlagen.
2) Wieso hat das niemand vorher erkannt?
Diese Frage wird nach dem Krieg genauer zu untersuchen sein. Die Geheimdienste verfügen über sehr viel Informationen. Die Frage dabei ist, wie diese in ihrer Bedeutung bewertet werden.
Dass die Hamas den Staat Israel mit allen Mitteln auslöschen wollen, ist bekannt. Daher werden Raketen geschmuggelt bzw. provisorisch gebaut, trainiert und geübt, um den (Erz-)Feind zu vernichten. Der Wille zum Jihad - zum Glaubenskrieg - ist permanent gegeben.
Das militärische Angriffspotential im Gaza-Streifen wurde wiederaufgebaut. Das war ein offenes Geheimnis. Bei den vorangegangenen Gaza-Kriegen gab es weiters vor dem offenen Ausbruch der kriegerischen Handlungen immer einige militärische "Vorrunden" und Eskalationsebenen.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass es ein derartig brutales, blutiges Vorgehen seit dem Yom Kippur Krieg nicht mehr gegeben hat.
Daher könnte der Schluss naheliegen, dass die Informationen grundsätzlich vorhanden waren, aber nicht als so gravierend eingestuft wurden, dass es zu militärischen Vorbereitungen bei den israelischen Streitkräften geführt hätte.
Unklar ist auch, wieviel das Militär der Politik vorgetragen hat und wie das beispielsweise durch die Regierung und speziell durch Premierminister Benjamin Netanyahu und der rechten Regierung gesehen wurde. Denn der derzeitige israelische Verteidigungsminister, Yoav Gallant, war aktiver General und Kommandant des Südabschnitts und kennt den Gaza-Streifen und die Hamas sehr gut.
Die amtierende Regierung, die sich auf die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland ausgerichtet hat, hat den Süden des Landes und besonders den Gaza-Streifen augenscheinlich nicht besonders im Fokus. Was sich daher in den Führungskreisen tatsächlich getan hat, wird wahrscheinlich nach dem Krieg aufgeklärt werden (müssen).
3) Warum konnten die Raketen aus dem Gaza-Streifen so viel Schaden anrichten?
Die israelischen Streitkräfte verfügen über ein hochmodernes Raketenabwehrsystem: Für Projektile und Raketen mit kürzerer Reichweite wird das "Iron Dome"-System (Eisenkuppel) verwendet, das in den letzten Auseinandersetzungen sehr gut funktioniert hat.
Das Funktionieren eines Waffensystems ist allerdings funktionsabhängig. Und ähnlich dem Magazinwechsel bei einem Sturmgewehr hat auch das "Iron Dome"-System nur eine begrenzte Anzahl an Abwehrraketen verfügbar, bis diese wieder nachgeladen werden - und das kostet Zeit.
Diesen Umstand nutzen die Terroristen und haben gelernt, das Abwehrsystem zu überlasten, indem in der ersten Welle eine große Anzahl an Raketen gleichzeitig abgefeuert werden, um im Anschluss mit den tatsächlich weiteren und größeren Raketen durchzudringen. Dieses Vorgehen wird in der militärischen Fachsprache als "Saturierung" bezeichnet.
4) Was geschieht gerade?
Die Lage im "Gaza-Gürtel" ist noch nicht vollkommen klar. Es gibt noch keine Meldung "Feind-frei", da es immer noch Berichte von einzelnen Terroristen im Zwischengelände gibt. Gleichzeitig ist die Evakuierung der örtlichen Bevölkerung im vollen Gange und von den 24 Ortschaften sind bis dato erst ca. 15 evakuiert.
Gleichzeitig wurde eine sehr große Zahl an Reservisten einberufen; die größte Einberufung seit dem Yom-Kippur-Krieg. Diese lösen bei den Bodentruppen die Aktivverbände ab, die in ganz Israel an den Grenzen eingesetzt sind oder sich gerade in Ausbildung etc. befinden.
Die Aktivverbände, wie die Golani-, Nahal-, Kfir-Brigaden bzw. Spezialeinsatzkräfte und Fallschirmjäger, werden in eine Bereitstellung nahe am Gaza-Streifen verlegt. Zusätzlich muss die gesamte Logistik, die Führungseinrichtungen sowie die Kampf- und Einsatzunterstützungskräfte herangeführt und koordiniert werden. Dies dauert einige Tage, um tatsächlich unter dem Grundsatz des "Kampfes der verbundenen Waffen" in einem sehr schwierigen Ortskampfszenario eingesetzt zu werden.
In der Zwischenzeit beschießt die einsatzbereite Luftwaffe, und wahrscheinlich auch die Marine, Ziele der Hamas und anderer Terrorzellen im Gaza-Streifen, wie Kommandozentralen, Operationsbasen sowie Munitionslager.
Weiters muss die Situation der Geiseln bestmöglich aufgeklärt werden, um diese bei einem möglichen Angriff zu verschonen.
Zusammengefasst: Es erfolgt gerade der umfangreiche Transport von viel Gerät, Kampffahrzeugen, Munition (gerade für die Artillerie), der Aufbau von Führungsstrukturen und viele Tätigkeiten mehr, die zwingend notwendig sind, um nach Entscheidung der Regierung einen Befehl zum Einmarsch in den Gaza-Streifen durchführen zu können.
Dabei müssen die anderen, möglichen Kriegsschauplätze speziell gegenüber dem Libanon und Syrien überwacht werden. Dazu gesellt sich noch die sehr unsichere Lage im Westjordanland und Jerusalem, wo die israelischen Truppen ebenfalls eingesetzt sind - und im schlimmsten Fall einen gleichzeitig stattfindenden Angriff abwehren müssen.
Parallel dazu werden auf jeden Fall im Hintergrund Verhandlungen laufen.
5) Wie kann ein Einsatz mit Bodentruppen aussehen?
Am Beispiel der israelischen Bodenoffensive 2014 kann abgeleitet werden, das zuerst das Gefechtsfeld durch schwere Artillerie beschossen wird, damit die Verteidigungsstellungen der Terrorgruppen ausgeschaltet bzw. stark dezimiert werden.
Darauf folgt unter massiver Feuerunterstützung, auch aus der Luft durch die Luftwaffe, und der Marine vom Meer aus, der phasenweise Angriff auf ganz spezielle Bereiche im Gaza-Streifen. Die enorme Herausforderung der Kampfführung besteht darin, im dicht verbauten und überdies stark untertunnelten Gebiet vorzugehen, und dabei die Geiseln, die sich in der Hand der Hamas befinden, nicht zu gefährden.
Daher ist ein abschnittweiser und damit langwieriger Vormarsch wahrscheinlich, der mehrere Wochen dauern kann. Das ist jedoch von der politischen Zielvorgabe an die Truppen abhängig. Nämlich was tatsächlich mit dem militärischen Einsatz erreicht werden soll und vor allem, wie es danach weitergehen wird. Dabei gilt es ganz besonders zu beobachten, was sich an anderen Schauplätzen abspielt, um nicht erneut überrascht zu werden.