Wie dringend ist westliche Hilfe für die Ukraine - und was könnte sie bewirken? Was wäre Russlands Reaktion? Oberst Markus Reisner beantwortet unsere Fragen:
1. Lässt die Entscheidung, westliche Waffen auf russischem Territorium einzusetzen, einen durchschlagenden Erfolg erwarten?
Aus den Erfahrungen der letzten knapp 830 Tage dieses Krieges lässt sich hier eine eindeutige Antwort ableiten: Die Wirkung eines Waffeneinsatzes auf russischem Territorium muss im Ergebnis klar messbar sein. Erst dann kann man von einem Erfolg sprechen. Bis vor wenigen Monaten trafen die vom Westen gelieferten weitreichende Waffensysteme sehr effizient russische Ziele.
Aber waren diese Angriffe auch effektiv, also ist es gelungen, den russischen Vormarsch nachhaltig zu stoppen, oder gar einen endgültigen Rückzug zu erzwingen? Die Antwort ist "nein", denn die russischen Angriffe und Offensiven gehen bis heute, trotz punktueller Rückschläge, weiter. Zudem werden die Angriffe mit westlichen, weitreichenden Waffensystemen immer weniger effizient, da die russischen Störmaßnahmen massiv zunehmen. Die Russen haben das Momentum (Video: Das russische Momentum ist zurück). Das heißt, sie bestimmen, wo sie angreifen - und die Ukraine ist gezwungen, zu reagieren. Diesen Teufelskreis muss die Ukraine unbedingt durchbrechen, sonst werden deren Kräfte stetig abgenützt. Aus diesem Grund folgt nun der Versuch, die Angriffe massiv auf russisches Territorium auszuweiten (davor haben diese Angriffe nur im begrenzten Rahmen stattgefunden).
2. Welche Möglichkeiten eröffnet diese Entscheidung vor allem für die ukrainische Verteidigung im Raum Charkiw, und welche Waffensysteme betrifft dies?
Durch einen Einsatz westlicher, weitreichender Waffensysteme (z.B. Boden-Bodenraketen, Rohr- oder Raketenartillerie, Luft-Bodenraketen) könnte man die Kommandostrukturen, Logistikknotenpunkte, Nachschublinien, Artilleriegruppierungen sowie Raketenstellungen und Bereitstellungsräume der russischen Gruppierung „SEVER“ nördlich Charkiv angreifen.
Aus den deutschen Lieferungen würden sich hier beispielsweise der MARS II-Raketenwerfer (er wurde bereits bei der ukrainischen Offensive in Charkiv im Herbst 2022 eingesetzt) oder die gelieferten Panzerhaubitzen 2000 eignen. Hinzu käme der Einsatz westlicher Fliegerabwehrsysteme mittlerer und hoher Reichweite in Grenznähe. Im Falle "deutscher Hilfe" wären dies vor allem IRIS-T und Patriot-Systeme. Mit diesen könnte man die russischen Kampfflugzeuge abschießen, welche zur Zeit mit ihren schweren Gleitbomben vom Typ FAB UMPK schwere Schäden anrichten. Die Ukraine hat dies in den letzten Monaten immer wieder erfolgreich versucht, wurde aber schließlich von den Russen aufgeklärt, und hat, wie in den Medien berichtet, zumindest zwei Patriot-Werfer verloren.
3. Wie könnten die Russen auf einen westlichen Waffeneinsatz reagieren?
Die Russen haben in den letzten beiden Jahren enorm dazu gelernt; vor allem aus dem Sommer 2022 (Stichwort damaliger „HIMARS-Effekt“). Und das ist eine schlechte Nachricht, denn dies heißt, sie haben bereits jetzt Abwehrmaßnahmen platziert, ihre Kommando- und Logistikstruktur aufgelockert, und redundante Versorgungswege angelegt.
Zudem verfolgen sie „erste Reihe fußfrei“ die zauderhaften Diskussionen im Westen. Der Überraschungseffekt ist somit nicht mehr vorhanden. Nicht zuletzt die russischen Drohungen haben diese endlosen Diskussionen ausgelöst und den Russen somit Zeit verschafft. Zeit, um sich vorzubereiten. Natürlich können die Russen nicht alle ihre Einrichtungen sichern, aber man kann davon ausgehen, dass es keine wirkungsvollen Enthauptungsschläge geben wird, weil die russischen Streitkräfte sich vorbereitet haben.
Moderne Waffensysteme haben zudem zeitlich immer nur begrenzte Wirkung. Ihre Einsätze sind nur solange erfolgreich, bis der Angegriffene funktionierende Abwehrmaßnahmen entwickelt hat. Beispielsweise auf Basis der Analyse erbeuteter Angriffswaffen. Es ist ein Katz- und Maus-Spiel - ein Wettlauf gegen die Zeit. Möchte man daher ein durchlangendes Ergebnis erzielen, ist es besser, ohne Ankündigung massiv anzugreifen - und nicht zu kleckern.
4. Welche Möglichkeiten eröffnen sich für weitreichende ukrainische Angriffe auf die Infrastruktur in Russland?
Die Ukraine führt bereits jetzt Angriffe durch, um einen strategischen Effekt zu erzielen. So möchte man die russische Raffinerieproduktion drosseln - und damit die wichtigste Einnahmequelle der russischen Kriegswirtschaft. Hier versucht die Ukraine, mit weitreichenden Drohnen zuzuschlagen.
Hinzu kamen auch Angriffe auf ein für die russische nukleare Abschreckung sehr wichtiges Frühwarnradarsystem (siehe unseren Artikel dazu). Nach einiger Zeit der Stille hat die USA in diesem Zusammenhang betont, dass sie derartige Angriffe weder durchführt, noch unterstützt. Ähnliches wurde zu den Raffinerieangriffen gesagt.
In Anbetracht einer neuen Offensive im Raum zwischen Charkiv und Sumy muss es im Moment aber das vorrangige Ziel der Ukraine sein, diesen Vorstoß und somit eine weitere Überdehnung ihrer Streitkräfte zu verhindern. Damit sind die russischen Bereitstellungsräume nördlich Charkiv und Sumy bevorzugte Ziele.
5. Haben die Ukrainer tatsächlich genügend westliche Waffen, um wirklich etwas erreichen zu können?
Hier muss man präzisieren, und sich die Frage stellen, welche Typen sind in welchen Mengen und mit welchen Fähigkeiten noch verfügbar: Wie in den Medien umfänglich berichtet, konnte man aus dem abgehörten Telefongespräch der deutschen Luftwaffenoffiziere entnehmen, dass der Stand an verfügbaren STORM SHADOW und SCALP bereits gering ist. Zudem fehlen hier weitere fliegende Trägerplattformen analog zu den umgebauten Su-24M.
Marschflugkörper vom Typ "TAURUS" wurden bis jetzt nicht geliefert, stehen also nicht zur Verfügung. Eine weitere Möglichkeit sind US-Präzisionsbomben vom Typ JDAM-ER oder GLSDB. Hier weiß man durch Berichte aus der amerikanischen Rüstungsindustrie, dass diese von russischen Störmaßnahmen massiv in ihrer Wirkung behindert werden. Dies gilt auch für die HIMARS-Munition vom Typ GMLRS und für endphasengesteuerte Artilleriemunition vom Typ EXCALIBUR.
Bleiben noch unterschiedliche Versionen der ATACMS (Army TACtical Missile System): Diese werden bereits eingesetzt, aber noch ohne sichtbaren „ATACMS-Effekt“. Aus militärischer Sicht müsste man massive Angriffe mit unterschiedlichen Waffensystemen kurz hintereinander ausführen. Dies würde zur notwendigen Übersättigung der russischen Abwehrmaßnahmen führen. Dazu benötigte es viele und hochwertige Wirkmittel. Wenn diese nicht verfügbar sind, müssten sie geliefert werden. Dies würde auch für TAURUS gelten.
6. Wie ist der mögliche zukünftige Einsatz westlicher Ausbilder in der Ukraine einzuschätzen?
Mit der Entsendung von Militärausbildern versucht der französische Präsident Macron der Ukraine in ihrer derzeit überaus schwierigen Situation zur Seite zu gehen. Der Bedarf an ukrainischen Soldaten an der, nicht zuletzt durch die Abwehrmaßnahmen bei Charkiv, völlig überdehnten Front ist derart hoch, dass kaum mehr Ausbilder im Hinterland verfügbar sind. Hier möchte Frankreich sichtbar unterstützen und eine gesamte Brigade von ukrainischen Soldaten ausbilden - und sogar ausrüsten.
Dieses Vorgehen ist, inklusive der Ankündigung, französische Mirage 2000 Kampfflugzeuge zu übergeben, zudem eine Botschaft an Russland, welche zeigen soll, dass Frankreich weiter zur Ukraine steht. Am Rande der D-Day Gedenkfeiern am 6. Juni 2024 führte der französische Präsident dazu auch ein Gespräch mit dem US-Präsidenten, welcher, wie berichtet wird, dieser Frage kritisch gegenübersteht. In europäischen Medien wird zudem zunehmend die Frage bezüglich einer schleichenden Kriegsbeteiligung gestellt.
Das Völkerrecht kennt hier zwei Kriterien: Erstens benötigt es eine direkte Beteiligung westlicher Soldaten an den Kampfhandlungen, und zweitens müssen die vom unterstützenden Staat getroffenen Maßnahmen unmittelbar Schaden beim Gegner hervorrufen. Beides scheint bei einer reinen Ausbildung von Soldaten im Westen der Ukraine nicht gegeben.
Russland reagierte trotzdem sofort mit Drohungen. In Anbetracht der derzeit laufenden zweiten strategischen Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine kann man davon ausgehen, dass im Rahmen dieser Angriffe auch weiterhin ukrainische Übungsplätze und Ausbildungskasernen Ziel russischer Marschflugköper, ballistischer Raketen und iranischer Drohnen sein werden. Dabei wird von russischer Seite auf die mögliche Anwesenheit französischer Ausbilder keine Rücksicht genommen werden. Vor allem, weil versucht werden wird, diese möglichst im Verborgenen einzusetzen, um sie eben nicht Angriffsziel werden zu lassen.
Die russischen Drohungen sind vorrangig auch eine Botschaft an das eigene Volk. Man möchte Stärke zeigen. Es ist kein Zufall, dass genau jetzt in russischen Netzwerken Videos auftauchen, welche getötete Soldaten in ukrainischen Uniformen mit französischen Abzeichen, und französisch sprechende Soldaten zeigen sollen. Abschließend ist festzustellen, dass der Bedarf der ukrainischen Streitkräfte an frisch ausgebildeten Soldaten in die Hunderttausende geht. Eine ernsthafte Ausbildungsstrategie für die Ukraine benötigt hier weit umfangreichere Maßnahmen und Ausbildungsansätze.